Die Medien sind voll davon: Digitalisierung! Ein Schlagwort, welches grundsätzlich immer dann eingesetzt werden kann, wenn es entweder, um schicke technische Innovationen geht, zukunftsorientierte Start-Ups, fehlende Bandbreite in ländlichen Gebieten, geburtenschwache Jahrgänge, Demographie, Datenschutz und Datensicherheit, agile Projektmethoden, Arbeitszeitmodelle und Führungsstile. Digitalisierung ist alles! Alles Gute – alles Böse!
Jeder Verband hat mindestens einen Fachausschuss, der sich für Digitalisierung einsetzt, sich damit beschäftigt oder sich zu mindestens trifft, um über “Digitalisierung“ zu reden. Etliche Veranstaltungen von Interessenvertretungen, Berufsverbänden, Handwerkskammern und IHKs finden unter den Deckmantel der Digitalisierung statt. Schließlich will man dabei sein, mitreden können, verstehen und nicht zuletzt auch seine Leistungen an den Mann bringen.
Das ist mir alles etwas viel auf einmal.
Mit Jahrgang 1972 bin ich per Definition kein „Digital Native“. Zwar ist der Commodore 64 bereits 1984 Bestandteil unseres Haushalts gewesen und ich habe 1993 auf der CeBIT meinen ersten Handyvertrag mit Mobilcom geschlossen (1,99 DM/ Minute ! ) gehöre ich dennoch per Definition mit Mitte 40 nicht zu denjenigen, die mit der Technik aufgewachsen sein sollen. Wenn ich mich heute in meinem Facebook Profil umschaue und auf den Geburtstagsfeiern meiner Eltern aufmerksam zuhöre, muss ich feststellen, dass zumindest aus diesem Kreis der heute bis 75-jährigen keiner dabei ist, der nicht digital unterwegs ist. Alle haben ein Handy, ein Smartphone, ein Tablet und sowieso eine normale PC Ausstattung zu Hause. Mit 100% Vorurteilen behaftet denke ich daher, dass alle Statistiken über die Computernutzung von Menschen älter als 50 ausschließlich in einem kleinen Eifeltal gemacht werden.
In Fachartikeln wird die Digitalisierung zum Inbegriff für jede Herausforderung des Arbeitslebens. Sicher gibt es vermehrt computerunterstützte Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich als es handwerkliche Arbeit in großen Fabriken gibt. Und darauf gilt es sich einzustellen.
Doch wird die Angst vor computergesteuerten Arbeitsplätzen und mangelndem Fachpersonal meines Erachtens wenig begründet geschürrt. Diejenigen die heute das Thema Digitalisierung vor sich wie die Sau durch Dorf treiben, müssen wahrscheinlich noch mal mindestens 10-15 Jahre älter als ich. Halten die sich etwa für zu wenig ausgebildet? Wollen die alle in Weiterbildungen? In welche? Ich glaube, dass diejenigen, die heute als 50+ in Ausbildungsmaßnahmen gesteckt werden würden, mit ihren Maßnahmen erst fertig sind, wenn Industrie 6.0 vor der Tür steht und „Digitalisierung“ durch echte künstliche Intelligenz ersetzt wird.
Auf einer Veranstaltung habe ich letztens einen Satz gehört, den ich so wirklich nicht nachvollziehen kann: „Wir Menschen müssen uns der Technik stellen und uns fortbilden, damit wir mit der Technik zurecht kommen.“ Da bin ich aber völlig anderer Meinung! Wir müssen vielmehr daran arbeiten, dass sich die Technik unseren Lebensumständen anpasst, uns unterstützt und uns dient. In den letzten Jahren haben Google, Microsoft und Co. doch auch alles dafür getan, dass es kaum noch ein Spezialistenwissen erfordert, um eine computergestützte Anwendung zu bedienen. Mit einem Fingerzeig auf die persönlichen Rechte eines jeden: Weiter so!
Branchenspezifisches Fachwissen wird vorerst gefragt bleiben; zumindest so lange bis wir dieses Wissen abspeichern können und über künstliche Intelligenz situativ, ethisch korrekt, emphatisch, interaktiv abrufen können. Erst wenn Siri und Alexa qualitative Entscheidungen treffen können wie ein Mensch, müssen bewusst neue gesellschaftliche (Arbeits-)Formen her.
Der heutige Grad der Digitalisierung bringt aber natürlich einige Herausforderungen mit sich, vor denen ich auch nicht die Augen verschließe. Unternehmen können sich nicht darauf verlassen, dass langjährige Kunden bei ihnen bleiben, da die Anforderungen an schnelle Lieferzeiten und niedrige Kosten gestiegen sind. Die Hemmschwelle Neues zu wagen ist gering. Andere Arbeitszeit- und Arbeitsplatzmodelle machen eine andere Art von Führung notwendig. Eine andere Art von Führung und insbesondere eine andere Art von Motivation.
Moderne Projektmanagementmethoden gilt es zu entwickeln, anzuwenden und diese gegebenenfalls durch Technik zu unterstützen. Hierbei sollte aber nicht die Technik den Prozess vorgeben, sondern der für das Unternehmen beste Prozess durch die beste Technik unterstützt werden. Dies verkennen viele, die erst ein Tool brauchen, um etwas überhaupt zu beginnen.
Diejenigen Firmen, die sich stets mit neuen Techniken, neuen Methoden und neuen Ideen – mit Innovation – auseinandersetzen und ihr Geschäftsmodell überdenken, neu ausrichten und planen, werden von „Digitalisierung“ nicht viel mitbekommen.
Das in vielen Kommunen angeführte Argument, dass Fußgängerzonen aussterben und Interneteinkaufen böse ist, wird den Konsumenten nicht davon überzeugen, Produkte zu höheren Preisen zwischen 10:00 und 18:30 Uhr einzukaufen. Diejenigen, die sich auf ein solches Geschäftsmodell in lokaler Lage festlegen, sollten schon eine Nische bedienen und qualitativ hochwertige Sach- oder Dienstleistungen anbieten.
Mein Fazit: „Digitalisierung“ im Dorf lassen.
Ihr Innovationsbegleiter
Jochen Rausch